Rezension
Reutlinger General-Anzeiger - Literatur + Medien - 12. September 2005
Kindheit am Rand der Gesellschaft
Mit Axel Altenburgs Debütroman liegt eines der berührendsten Bücher der letzten Zeit vor. Es bestätigt nicht nur die von Marcel Reich-Ranicki unlängst in seiner Thomas-Mann-Rede angesprochene neue Lust am Erzählen in der Literatur, sondern lässt tief in die Niederungen der Spezies Mensch blicken und dort Unglaubliches entdecken. Zugleich vermittelt es eine merkwürdige Kraft, den Grausamkeiten des Lebens Stand zu halten, denn es hält auch Schönes bereit.
Der 47-jährige Berliner Axel Altenburg erzählt seine eigene Kindheit. Er wurde in einem Milieu groß, das die meisten Leute, die Bücher lesen, nur aus zweiter Hand kennen: Im Milieu der Asozialen. Der Vater säuft und ist gewalttätig, die Mutter ist mit ihren vier Kindern völlig überfordert. Axel und seine drei Brüder - er ist der zweitälteste - erleben eine Kindheit in ständiger Angst vor Schlägen, ohne Zärtlichkeit, ja ohne jegliches Interesse an ihnen als Individuen.
Axel wird im Kindergartenalter in einem Kurheim von Arzt und Betreuerin fies sexuell missbraucht. Als er später von Pipi und Popo seiner Mama erzählt, lässt auch diese sich zu einem sexuellen Übergriff auf das Kind hinreißen.
Der Vater, von Beruf Maurer, verdrischt - besoffen oder nicht - die Kinder in viehischer Weise, bricht ihnen die Knochen, wirft sie als Säugling herum und schlägt an ihnen Gegenstände kaputt. Detlef, den Bettnässer, trifft es besonders oft und hart: Das Ergebnis sind epileptische Anfälle durch die von den Misshandlungen ausgelösten Kopfverletzungen.
Hunger und Angst sind die Konstanten in Axels Kindheit. Einmal haben sie vier Tage überhaupt nichts zum Essen. Der Alte hat alles Geld in Alkohol umgesetzt und lässt sich zu Hause nicht mehr blicken. Die Mutter, der auch niemand mehr etwas leiht, kann ihren Kindern nur noch raten, Wasser zu trinken, um überhaupt etwas im Magen zu haben. Wie so oft hilft dann die Oma so gut sie kann, und für die Kinder kehrt mit einem warmen Essen für einen Abend allergrößtes Glück ein.
Bei diesem Vorfall sind die Jungs noch klein, als sie größer werden, gehen sie Lebensmittel klauen. Einmal wird eine gemeinsame Beschaffungsaktion von Sülzkotelett und Fleischsalat für die Mutter zu einem Fest. Da wohnen sie schon im Obdachlosenasyl, denn die Familie Altenburg wurde aus ihrer Wohnung herausgeklagt, weil sie die Miete nicht bezahlt hat.
Suff und Aggression
Im Obdachlosenasyl bekommt Axel Einblick in andere verwahrloste Familien, wo auch Suff und Aggressionen das Zusammenleben bestimmen. In der Schule, die er als einziger seiner Brüder regelmäßig besucht, versucht er geheim zu halten, wo er wohnt. Doch seine bewunderte Lehrerin gibt sein Geheimnis gedankenlos preis, und Axel wird von seinen Mitschülern fortan rigoros ausgegrenzt und gemobbt. Das ändert sich erst wieder, als er die Klasse wechseln darf. Und er bringt es tatsächlich zu einem guten Abschlusszeugnis und zu einer Lehrstelle als Einzelhandelskaufmann.
Damit endet das Buch. Allerdings sind in der letzten Szene, in der die durch Stress inkontinent gewordene Mutter ihre Söhne mit ihrer Stinkehose traktiert, die Auflösungserscheinungen der Familie evident. Die beiden jüngeren Brüder sind meist auf Trebe und der älteste ist bereits Alkoholiker und hat seine Maler-Lehrstelle geschmissen. Es ist erstaunlich, wie lange die Altenburgs in ihren schmuddeligen Behausungen zusammengehalten haben und wenigstens unter den Brüdern eine gewisse Zuneigung geherrscht hat.
Axel Altenburg hat kein bedrückendes Sozialdrama geschrieben, sondern lässt immer Luft für Träume und innere Fluchten. Er kommentiert auch nicht, obgleich er parteiisch erzählt, nämlich als von diesen Familienumständen Beeinträchtigter - als vom Schicksal Geschlagener. Es gelingt ihm, stets das Auffassungsvermögen des Kindes je nach Alter darzustellen. Und er besitzt die sprachlichen Mittel, die Abgründe dieses Lebens am Rand der Gesellschaft spürbar zu machen
Monique Cantré